Die Differenzierung zwischen legitimer Kritik an Israel und dem sogenannten neuen Antisemitismus.
Von Natan Sharansky
Letzte Woche nahm ich an einer Konferenz über Antisemitismus in Europa teil. Mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi als Gastgeber brachte die Konferenz führende Persönlichkeiten aus der ganzen Welt zusammen, die entschlossen waren die neue Welle an Antisemitismus zu bekämpfen, die Europa in den letzten Jahren überschwemmt hat.
Die Frage ist, wie die ehrlichen Absichten der Teilnehmer, gegen dieses Übel vorzugehen, in die Tat umgesetzt werden können.
Meine Erfahrung hat mich davon überzeugt, dass moralische Klarheit dafür entscheidend ist, eine Haltung gegen dieses Übel einzunehmen. Das Übel kann nicht besiegt werden, wenn es nicht erkannt werden kann, und die einzige Möglichkeit es zu erkennen ist, klare moralische Grenzen zu ziehen. Das Übel blüht auf, wenn diese Linien verwischt sind, wenn Richtig und Falsch eine Sache von Ansicht und nicht von objektiver Wahrheit ist.
Das ist es, was den Kampf gegen den sogenannten neuen Antisemitismus so schwierig macht.
In den Augen der modernen freien Welt ist der klassische Antisemitismus leicht auszumachen. Wenn wir Filme sehen, die Juden dabei zeigen, wie sie nichtjüdischen Kindern das Blut abzapfen oder Pläne zur Erlangung der Weltherrschaft schmieden, werden die meisten von uns das sofort als Antisemitismus erkennen.
Solche Filme, die erst kürzlich durch die von der Regierung kontrollierten Medien in Ägypten und Syrien produziert wurden und über Satellit zu Hunderten von Millionen Muslimen in der ganzen Welt übertragen wurden, einschließlich von Millionen muslimischen Immigranten in Westeuropa, verwenden Motive und Verleumdungen, die uns bekannt sind.
Aber der neue Antisemitismus ist viel subtiler. Während man den klassischen Antisemitismus als gegen die jüdische Religion oder das jüdische Volk gerichtet sieht, zielt der neue Antisemitismus angeblich gegen den jüdischen Staat. Da dieser Antisemitismus sich hinter der Fassade legitimer Israelkritik verstecken kann, ist er viel schwieriger aufzudecken.
Tatsächlich, immer wenn wir besonders virulente anti-israelische Äußerungen dahingehen kritisiert haben, dass sie in Antisemitismus wurzeln, war die Reaktion unweigerlich, dass wir versuchen würden, legitime Kritik an Israel zu unterdrücken, indem wir sie vorsätzlich als antisemitisch bezeichnen.
Was aus dieser Konferenz hervorging war das Eingeständnis von den europäischen Führungspersonen selbst, dass nicht jede Israelkritik legitim ist. Diese Erkenntnis war offensichtlich in den Äußerungen von Präsident Romano Prodi, dem deutschen Außenminister Joschka Fischer und anderen offiziellen Vertretern.
Wenn nicht jede Israelkritik zulässig ist, wie legen wir dann die Grenzen fest?
Ich schlage den folgenden Test vor, um legitime Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden. Der 3-D-Test, wie ich ihn nenne, ist kein neuer Test. Er wendet nur dieselben Kriterien auf den neuen Antisemitismus an, die auch seit Jahrhunderten die verschiedenen Dimensionen des klassischen Antisemitismus identifiziert haben.
Dämonisierung
Das erste D ist der Test auf Dämonisierung.
Ob in der theologischen Form der Kollektivanklage wegen Theozid oder in der literarischen Darstellung von Shakespeares Shylock, die Juden wurden seit Jahrhunderten dämonisiert indem ihre Handlungen aus jeglichen normalen Proportionen gerissen wurden.
Zum Beispiel die Vergleiche von Israelis mit Nazis und der palästinensischen Flüchtlingslager mit Auschwitz - Vergleiche, die innerhalb der "aufgeklärten" Viertel Europas praktisch jeden Tag zu hören sind - können nur als antisemitisch bezeichnet werden.
Diejenigen, die solche Vergleiche ziehen, wissen entweder überhaupt nichts über Nazideutschland oder, was wahrscheinlicher ist, versuchen bewußt das heutige Israel als Inbegriff des Bösen darzustellen.
Doppelstandards
Das zweite D ist der Test auf Doppelstandards.
Seit tausenden von Jahren ist ein klares Zeichen von Antisemitismus, die Juden anders als andere Menschen zu behandeln, angefangen von den diskriminierenden Gesetzen, die viele Nationen gegen sie erlassen haben, bis hin zu der Neigung, ihr Verhalten mit einer anderen Messlatte zu messen.
Auf ähnliche Weise müssen wir heute fragen, ob die Kritik an Israel selektiv angewendet wird. Mit anderen Worten, erzeugt ähnliche Politik anderer Regierungen die gleiche Kritik, oder wird hier ein doppelter Standard eingesetzt?
Es ist zum Beispiel Antisemitismus, wenn Israel durch die Vereinten Nationen wegen Menschenrechtsverletzungen herausgepickt wird, während Länder wie China, Iran, Kuba und Syrien, die nachweislich wirklichen Mißbrauch treiben, ignoriert werden.
Ebenso ist es Antisemitismus, wenn Israels Magen David Adom als einzige Ambulanz-Organisation der Welt nicht zum Internationalen Roten Kreuz zugelassen wird.
Delegitimierung
Das dritte D ist der Test auf Delegitimierung.
In der Vergangenheit haben Antisemiten versucht, die Legitimität der jüdischen Religion, des jüdischen Volkes, oder von beiden, zu negieren. Heute versuchen sie, die Legitimität des jüdischen Staates zu verneinen, indem sie ihn unter anderem als das letzte Überbleibsel des Kolonialismus darstellen.
Während die Kritik an israelischer Politik nicht antisemitisch sein muss, ist es immer antisemitisch, wenn das Existenzrecht Israels angezweifelt wird. Wenn andere Völker das Recht darauf haben, sicher in ihrem Heimatland zu leben, dann haben auch die jüdischen Menschen ein Recht darauf, sicher in ihrem Heimatland zu leben.
Um den 3-D-Test im Gedächtnis zu behalten schlage ich vor, dass wir uns an die 3-D Filme erinnern, die wir als Kinder gesehen haben. Ohne diese speziellen Brillen war der Film flach und verschwommen. Aber wenn wir unsere Brillen aufgesetzt hatten, wurde die Leinwand lebendig und wir haben alles in voller Schärfe gesehen.
Genauso verschwimmen die Linien zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus, wenn wir nicht die richtige Brille aufhaben, und wir werden dieses uralte Übel nicht erkennen können, geschweige denn dagegen angehen.
Aber wenn wir die speziellen Brillengläser des 3-D-Test verwenden - wenn wir prüfen, ob Israel dämonisiert oder delegitmiert wird, oder ob ein doppelter Standard angelegt wird - werden wir immer in der Lage sein, Antisemitismus klar zu erkennen.
Und mit moralischer Klarheit habe ich keinen Zweifel daran, dass unsere Bemühungen, dieses Übel zu bekämpfen, wesentlich erfolgreicher sein wird.
Übersetzung: Thorsten Schmermund
Quelle: Aish.com (Erstveröffentlichung Jerusalem Post)
hagalil.com 05-03-2004